Krieg hinterlässt nicht nur sichtbare Spuren der Zerstörung in Form von Ruinen und menschlichem Leid, sondern prägt auch auf unsichtbare Weise zukünftige Generationen. Der Schlüssel zu diesem Verständnis liegt in der Epigenetik, einem Forschungsbereich, der sich mit den erblichen Veränderungen in der Genexpression beschäftigt, die durch Umwelteinflüsse, nicht aber durch Veränderungen der DNA-Sequenz selbst hervorgerufen werden. Die Erkenntnisse der Epigenetik zeigen, dass die Traumata, die Menschen im Krieg erleiden, weit über die individuelle Ebene hinausreichen und das genetische Erbe ganzer Völker beeinflussen können.  

Was ist Epigenetik und wie wirkt sie im Kontext von Kriegstraumata?

Epigenetik bezieht sich auf Mechanismen, die bestimmen, wie Gene an-oder ausgeschaltet werden. Dies geschieht durch sogenannte epigenetische Marker, die sich an die DNA heften und die Genaktivität verändern, ohne die zugrunde liegende Sequenz zu verändern. Umweltfaktoren wie Stress, Hunger, Gewalt und Traumata können diese Markierungen beeinflussen und die Genexpression verändern. Diese Veränderungen können nicht nur das Individuum selbst betreffen, sondern auch an die Nachkommen weitergegeben werden. Dies geschieht durch DNA-Methylierung- was die Aktivität eines Gens verringern oder komplett abschalten kann oder durch die Histon-Modifikation. Histone sind Proteine, um die die DNA gewickelt ist. Ihre chemische Modifikation kann beeinflussen, wie eng die DNA gewickelt ist, was wiederum bestimmt, ob Gene aktiv oder inaktiv sind.

Doch wie wird das weiter gegeben? Die Antwort liegt in der Reproduktion. Während der Bildung von Eizellen (als Fötus während der Schwangerschaft der Mutter) und Spermien kann die epigenetische “Signatur”, die durch Traumata geprägt wurde, auf das Erbgut der Nachkommen übertragen werden. Und durch pränatale und frühe Umweltbedingungen. Der Zustand der Mutter während der Schwangerschaft, einschliesslich ihrer psychischen Gesundheit, kann ebenfalls die epigenetische Prägung des Kindes beeinflussen. Stresshormone wie Cortisol können auf den Fötus einwirken und dessen Genexpression dauerhaft verändern.

Studien zeigen, dass Menschen, die extreme Belastungen wie Krieg erfahren haben, epigenetische Veränderungen in den Genen aufweisen, die mit Stressreaktionen, Angst und Depression in Verbindung stehen. Diese Veränderungen können das Verhalten, die Gesundheit und die psychische Stabilität zukünftiger Generationen beeinflussen. Beispielsweise weisen die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden epigenetische Markierungen auf, die ihre Anfälligkeit für psychische Störungen erhöhen. Ähnliche Ergebnisse wurden bei Nachfahren von Menschen gefunden, die schwere Hungersnöte oder andere extreme Notlagen überlebt haben.

Weitere Folgen von Krieg und Traumatas auf die Epigenetik

Physiologische Auswirkungen auf das Immunsystem: Epigenetische Veränderungen können die Expression von Genen steuern, die für die Immunabwehr verantwortlich sind. So können beispielsweise traumatische Erfahrungen zu einer Überaktivierung des Immunsystems führen, was zu chronischen Entzündungen führen kann. Diese Entzündungsreaktionen sind oft mit Autoimmunerkrankungen verbunden. Damit einher geht auch eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen. Aufgrund der epigenetischen Veränderung können nachfolgende Generationen eine veränderte Immunantwort haben, was sie anfälliger für Infektionen und andere Krankheiten macht.

Stoffwechselerkrankungen:  Studien haben gezeigt, dass Kinder und Enkelkinder von Personen, die währen Kriegszeiten unter Hunger oder extremen Stress litten, ein erhöhtes Risiko für Stoffwechselstörungen wie Typ-2-Diabetes und Adipositas haben. Diese Effekte können durch epigenetische Modifikationen in Genen, die den Glukosestoffwechsel und die Fettlagerung steuern, vermittelt werden. Stress und Traumatas können auch die Expression von Genen beeinflussen, die an der Regulation des Blutdrucks und des Cholesterinspiegels beteiligt sind, was zu einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann.

Reproduktive Gesundheit: Bei Männern können zum Beispiel die Spermienqualität und die Beweglichkeit beeinträchtig sein, während bei Frauen der Menstruationszyklus und die Eizellreifung gestört werden können. Auch können Frauen ein erhöhtes Risiko für Komplikationen während der Schwangerschaft, einschliesslich Frühgeburten erleiden. Diese Komplikationen können durch epigenetische Veränderungen in Genen, die den Schwangerschaftsverlauf regulieren, beeinflusst werden.

Neurologische und kognitive Auswirkungen: Kinder von traumatisierten Eltern können Schwierigkeiten haben, in der Schule erfolgreich zu sein oder kognitive Aufgaben zu bewältigen. Zudem besteht ein erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, da epigenetische Veränderungen auch solche Krankheiten hervorrufen können.

Auswirkungen auf die emotionale Regulation und Bindung: Kinder von traumatisierten Eltern entwickeln häufiger Bindungsstörungen. Diese Störungen können durch epigenetische Veränderungen in Genen, die für die Regulation von Bindungshormonen wie Oxytocin verantwortlich sind, verursacht werden. Auch  können traumatisierte Individuen und ihre Nachkommen eine erhöhte Neigung zu aggressivem Verhalten und Impulsivität zeigen, was ebenfalls epigenetisch bedingt sein kann. 

Übertragungsmechanismen auf zukünftige Generationen:  Traumatisierte Eltern können, bedingt durch Veränderungen im Stresshormonhaushalt Schwierigkeiten haben, eine sichere Bindung zu ihren Kindern aufzubauen, was zu weiteren psychischen und physischen Problemen und Veränderungen bei den Nachkommen führen kann. 

Gesellschaftliche und kulturelle Zerstörung: Die kumulativen epigenetischen Effekte bei einer grossen Anzahlt von Menschen können zu einer allgemeinen Abnahme der Gesundheit und Produktivität einer Gesellschaft führen. 

Die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata

Die epigenetische Veränderungen, die durch Kriegstraumata ausgelöst werden, haben eine tiefgreifende Bedeutung für die zukünftigen Generationen. Kinder und Enkel von Menschen, die Kriege erlebt haben, tragen oft die Last dieser Traumata, selbst wenn sie nie selbst direkten Kontakt mit Krieg hatten. Diese transgenerationale Weitergabe von Traumata kann das kollektive Bewusstsein eines Volkes formen und dessen psychische und physische Gesundheit über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg beeinflussen.

Für Länder, die in wüsten Kriegen verwickelt sind, bedeutet dies, dass die Auswirkungen des Konflikts weit über das Ende der Feindseligkeiten hinausreichen. Nicht nur die unmittelbaren Opfer, sondern auch deren Nachkommen sind betroffen. Dies gilt für beide Seiten des Konflikts: Sowohl die Opfer als auch die Täter, bzw. die Opfer beider Seiten, können durch die epigenetischen Folgen des Krieges nachhaltig geschädigt werden.

Die langfristigen Folgen für Völker und Nationen

Die epigenetische Weitergabe von Kriegstraumata birgt das Potenzial, ganze Völker nachhaltig zu destabilisieren. In Gesellschaften, die über Generationen hinweg von Krieg, Hunger, physischer Gewalt betroffen sind, kann sich ein Teufelskreis von psychischen Erkrankungen, sozialer Dysfunktion und wirtschaftlicher Instabilität entwickeln. Diese Folgen können dazu führen, dass Menschen langfristig geschwächt werden, selbst wenn der Krieg schon lange vorbei ist. Auch hier muss vermerkt werden, dies gilt immer für alle Parteien des Krieges.

Eine solche epigenetische Belastung kann nicht nur die psychische Gesundheit und das soziale Gefüge einer Gesellschaft beeinträchtigen, sondern auch dessen Widerstandsfähigkeit gegenüber zukünftigen Krisen verringern. Eine Gesellschaft, die über Generationen hinweg mit den epigenetischen Folgen von Kriegstraumata kämpft, kann in seiner Entwicklung gehemmt werden, was wiederum soziale und wirtschaftliche Fortschritte erschwert. Dies kann zu einem Verlust an Potenzial führen, wodurch eine Nation indirekt zerstört wird.

Auch Soldaten die auf der “anderen Seite” kämpfen sind von diesen epigenetischen Schäden betroffen und genauso ihre Nachkommen. Auf lange Sicht kann dies die Gesundheit und Stabilität aller beteiligten Menschen untergraben und so ganzer Völker, was zu einem indirekten, aber tiefgreifenden Niedergang führen kann. 

Epigenetische Auswirkungen anhand von drei Beispielen

  • Afrika: Der Bürgerkrieg in Rwanda. Der Völkermord in Rwanda 1994 ist eines der schrecklisten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Über 800.000 Menschen wurden in nur 100 Tagen brutal ermordet. Die Überlebenden, insbesondere Kinder, die diese Gewalt miterlebten, zeigen bis heute Anzeichen schwerer posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS). Epigenetische Studien haben gezeigt, dass die traumatischen Erlebnisse der Überlebenden zu Veränderungen in der Genexpression führen, die ihre Stressbewältigungsmechanismen beeinträchtigen. Diese Veränderungen wurden auch bei ihren Nachkommen festgestellt, obwohl diese die Gewalt selbst nie erlebt haben. Die Auswirkungen auf zukünftige Generationen manifestieren sich in Form von erhöhter Anfälligkeit für psychische Störungen, Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und einer erhöhten Stressaktivität.
 
  • Asien: Der Vietnamkrieg. Der Vietnamkrieg hatte verheerende Auswirkungen auf die Soldaten, die nach Hause zurückkehrten, aber auch auf die vietnamesische Bevölkerung. Viele der amerikanischen Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehrten, litten unter PTBS und trugen diese Belastungen in die Familien hinein. Ihre Kinder zeigen häufig ähnliche psychische Probleme, obwohl sie nie im Krieg waren. Epigenetische Untersuchungen deuten darauf hin, dass die extremen Stressbedingungen, denen die Soldaten ausgesetzt waren, Veränderungen in den Genen verursacht haben, die für die Regulation von Stress und Angst zuständig sind. Diese epigenetische Marker wurden auf die nächste Generation übertragen und beeinflussen ihre psychische Gesundheit. Ähnliche Muster wurden bei den vietnamesischen Überlebenden festgestellt, deren Nachkommen ebenfalls unter den Folgen des Krieges leiden, sowohl psychisch als auch physisch. 
 
  • Europa: Die Rückkehr der Soldaten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg kehrten Millionen von Soldaten nach Hause zurück, viele von ihnen schwer traumatisiert. Die psychischen und physischen Narben, die sie aus den Schützengräbern und von den Schlachtfeldern mitbrachten, prägten ihre Familien und Gemeinschaften nachhaltig. Diese Veteranen litten unter dem, was damals als “Kriegsneurose” oder “Shell Shock” bezeichnet wurde, heute besser bekannt als PTBS. Diese tiefsitzenden Traumata führten häufig zu sozialen und familiären Konflikten, Alkoholismus und Gewalt, was nicht nur das Leben der Veteranen selbst, sondern auch das ihrer Nachkommen stark beeinflusste.  Epigenetische Forschungen zeigen, dass die expremen Stressbedingungen, denen die Soldaten ausgesetzt waren, Veränderungen in den Genexpression verursacht haben, die an ihre Kinder und Enkel weitergegeben wurden. Diese Nachkommen zeigen häufig erhöhte Anfälligkeiten für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Hochsensibilität, obwohl sie die Kriegstraumata selbst nicht erlebt hatten. Diese epigenetischen Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit und die Lebensqualität der betroffenen Familien über mehrere Generationen hinweg. 

Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaften

Die Auswirkungen eines Krieges betrifft nie nur die Menschen die darin verwickelt waren. Jeder Mensch auf dieser Welt ist betroffen von Krieg und deren Folgen, denn jeder Mensch hat Verwandte, die in einem Krieg oder in Kriegszeiten gelebt haben. So zerstört ein Krieg nie nur die direkt Betroffenen, sondern lässt auch alle anderen anfällig werden für Krankheiten.

Die Erkenntnisse über die epigenetischen Auswirkungen von Kriegstraumata werfen Fragen nach der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft auf. Wenn Kriege nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft ganzer Gernationen beeinflussen, müssen die Auswirkungen von militärischen Konflikten unter einem neuen Licht betrachtet werden. Die langfristigen Folgen von Kriegen könnten eine neue Dimension in den Überlegungen zu Frieden und Sicherheit darstellen.

Es ist nicht nur eine Frage des unmittelbaren Schutzes von Zivilisten, sondern auch des Schutzes zukünftiger Generationen. Die epigenetischen Konsequenzen von Kriegstraumata zeigen, dass die Wunden, die durch Kriege geschlagen werden, nicht nur die Betroffenen treffen, sondern auch deren Nachkommen. Dies erfordert ein Umdenken in der Art und Weise, wie Kriege geführt und beendet werden, und in der Verantwortung, die Kriegsparteien gegenüber den Opfern und deren zukünftigen Generationen haben.

Fazit

Die Epigenetik bietet einen tiefen Einblick in die unsichtbaren Folgen von Krieg und Nöten. Die Traumata, die im Krieg erlitten werden, hinterlassen Spuren in den DNA, die das Leben zukünftiger Generationen prägen können. Diese Erkenntnis macht deutlich, dass Kriege nicht nur die unmittelbare Gegenwart zerstören, sondern auch die Zukunft beeinflussen. Die langfristigen Auswirkungen auf das kollektive Erbe eines Gesellschaft können verheerend sein und über Generationen hinweg fortbestehen.

Für Völker, die in Konflikten verwickelt sind, ist dies eine düstere Realität. Die Narben des Krieges werden nicht nur in den Ruinen von Städten oder in den Geschichten der Überlebenden sichtbar, sondern auch in den Genen zukünftiger Generationen. Wenn wir den Frieden wahren wollen, müssen wir die tiefgreifenden und langanhaltenden Konsequenen von Krieg verstehen – und das beinhaltet die epigenetischen Schäden, die ein Volk über Generationen hinweg schwächen und zerstören können.

Literaturquellen:

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